Vor Gericht strategisch zum Ziel

Wasser floss nach starkem Regenfall auf das Kartoffelfeld eines Landwirts. Er forderte Schadenersatz, was ihm zuerst nicht gewährt wurde. Mit einer gut durchdachten Strategie kam er schlussendlich zum Ziel. Wir erklären wie.

Autor: Josef Amrein, Foto: bul

Man hört oft, dass man vor Gerichten oder Behörden ohne anwaltliche Vertretung keine Chancen habe. Mit einer wohlüberlegten Strategie – möglichst zu Beginn eines Prozesses – können Sie zu Ihrem Recht kommen. Hierzu müssen die grundlegenden Arbeitsweisen von Behörden zwingend mitberücksichtigt werden. Das wird nachfolgend an einem Fall aus dem Bernischen exemplarisch gezeigt.

Ausgangslage und Prozessverlauf

A. pflanzte im Jahr 2018 Kartoffeln auf den von ihm gepachteten zwei Grundstücken in Münchenbuchsee. Diese grenzen an einen Gemeindeweg. Nach starkem Regen floss Wasser von diesem Weg auf das Kartoffelfeld. Es entstand ein Schaden, den das Inforama Rütti (Amt für Landwirtschaft und Natur des Kantons Bern) auf 2'096 CHF schätzte.

A. ersuchte daraufhin die Einwohnergemeinde (EG) Münchenbuchsee am 24. August 2018, dass ihm dieser Schaden, gestützt auf Artikel 77 des Strassengesetzes vom 4. Juni 2008 (SG; BSG 732.11) inklusive den Schätzungskosten der Inforama von 310 CHF bezahlt werde. Die Gemeinde lehnte dieses Begehren anfangs November 2018 ab.

A. liess sich von diesem abschlägigen Entscheid nicht entmutigen. Am 4. Dezember 2018 gelangte A. - ohne anwaltliche Vertretung - an die Enteignungsschätzungskommission des Kantons Bern und beantragte, die Einwohnergemeinde München­buchsee sei zu verpflichten, ihm eine Entschädigung von 2'096 CHF und die Kosten für die Kulturschadenschätzung von 310 CHF zu bezahlen.

Die Enteignungskommission gab A. vollumfänglich recht und verpflichtete die Gemeinde Münchenbuchsee mit Entscheid vom 2. Juli 2019, A. den Betrag von insgesamt 2'406 CHF zu bezahlen. Damit war die Gemeinde nicht einverstanden. Sie zog das Urteil mit anwaltlicher Hilfe weiter und gelangte an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern. Im Folgenden beschreiben wir den Verlauf des Verfahrens.

Grundlegende Funktionsweise von Behörden

Es wird die Zuständigkeit überprüft und insbesondere, wie umfassend die sogenannte Kognition der (oberen) Instanz ausfällt. Mit der Kognition wird festgelegt, in welchem Ausmass und Umfang eine obere Instanz die untere Instanz kontrollieren und korrigieren kann. Im vorliegenden Fall hatte das Verwaltungsgericht eine volle Kognition. Sie konnte also das angefochtene Urteil tatsächlich und rechtlich vollständig überprüfen und ihre eigene Sichtweise als verbindlich erklären.

Das Gericht eruiert in einem ersten Schritt die massgeblichen gesetzlichen Grundlagen und legt diese aus. Unter Auslegen wird verstanden, dass die anwendbaren Gesetze interpretiert werden. Häufig wird zuerst auch der rechtsrelevante Sach­verhalt, also was sich aus der Sicht einer Behörde genau abgespielt hat, eruiert.

Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht Artikel 77 des bernischen Strassengesetzes (SG) als geltend gemachte Haftungs­grundlage umfassend unter Einbezug der gesamten Gesetzgebung bis zurück ins Jahr 1934 geprüft. Das Verwaltungsgericht resümierte nach acht Seiten Erwägungen wie folgt: Artikel 77 des bernischen Strassengesetzes setze alleine voraus, dass ein namhafter Schaden entstanden ist und dieser durch von einer öffentlichen Strasse abfliessendes Wasser verursacht wurde. Die Anstösser müssten grundsätzlich dulden, dass von Strassen natürlich abfliessendes Wasser auf ihre Grundstücke versickert. Die Anstösser sollen aber nicht das Risiko tragen müssen, die durch von Strassen abfliessendes Wasser verursacht werden, wenn etwas schiefläuft. Es sei eine besondere Art von Schadenersatzpflicht, welche seitens der Gemeinde keine Widerrechtlichkeit voraussetze.

Das Resultat hängt auch von der Auslegung der Gerichte ab. In diesem Fall hätte das Verwaltungsgericht ebenso gut argumentieren können, dass hier dieselben Regelungen wie im Privathaftpflichtrecht gelten. Das heisst, die Gemeinde könnte nur belangt werden, wenn hier der Landwirt A der Gemeinde eine Gesetzeswidrigkeit hätte nachweisen können. Dieser Beweis wäre für den Landwirt schwierig zu erbringen gewesen.

Reaktionen des Gerichts

Die Gemeinde führte zahlreiche Argumente an. Diese sollen nachfolgend dargestellt werden, um einen groben Eindruck zu vermitteln:

  • Die Gemeinde verlangte, dass der Landwirt offenzulegen habe, wer ihn in den Eingaben unterstütze. Dazu behauptete sie mögliche Verletzungen von Strafbestimmungen des kantonalen Anwaltsgesetzes.
    Gericht: Es steht einer betroffenen Partei vollständig frei, wie sich diese in einem Prozess unterstützen lässt. Das gilt in besonderem Umfang, wenn wie vorliegend sich die Gemeinde von einem Rechtsanwalt hat vertreten lassen.

  • Die Gemeinde Münchenbuchsee machte unter anderem geltend, dass die fragliche Strasse nur von Zubringern befahren werde dürfe und die Gemeinde diese Strasse von einer sogenannten Flurgenossenschaft übernommen habe.
    Gericht: Massgebend ist gemäss Artikel 77 SG einzig die Frage, ob es sich um eine öffentliche Strasse handelt; allfällige Strassenverkehrsvorschriften sind überhaupt nicht von Belang.

  • Es wäre unangemessen und würde hohe Kosten verursachen, wenn überall Abhilfemassnahmen wie Einlaufschächte eingebaut werden müssten.
    Gericht: Den Gemeinden obliegen der Unterhalt der Strassen und eine funktionierende Strassenentwässerung

  • Der erlittene Schaden sei nicht namhaft und betrage nur 411 m2. Das sei vernachlässigbar in Bezug auf die Grösse des gesamten Feldes und das Betriebseinkommen des Landwirts. Es seien deshalb sämtliche Betriebsdaten des Landwirts durch das Gericht zu erheben.
    Gericht: Mit der Voraussetzung, dass es sich um einen namhaften Schaden handeln muss, sollen gemäss gesetzgeberischer Absicht einzig Bagatellfälle ausgeschlossen werden. Die Argumente der Gemeinde sind daher völlig unbehilflich. Als Bagatelle beurteilte das Gericht einen Schaden von wenigen Hundert Franken. Dementsprechend wurde die Erhebung der Betriebsdaten obsolet.

  • Der geltend gemachte Schaden sei nicht nachgewiesen worden, und bei der beauftragten Inforama handle es sich nicht um eine neutrale Stelle.
    Gericht: Bei der Inforama handelt es sich um eine staatliche Fachstelle für landwirtschaftliche Fragen. Die Kulturschadenschätzung sei damit als Amts- und Fachbericht zu würdigen. Vom Ergebnis darf nur aus triftigen Gründen abgewichen werden. Das Gericht kontrollierte die einzelnen Positionen und Argumentationen. Das Gericht befand den Bericht beziehungsweise den Schaden als schlüssig nachgewiesen. Es komme noch hinzu, dass die Gemeinde erst am Schluss des Verfahrens Einwände gegen die Schadensberechnung vorgebracht habe und sie ursprünglich nicht in Frage stellte.

  • Die Gemeinde bemühte sogar einen Artikel aus der Fachzeitschrift «Schweizer Bauer», wonach beim Kartoffelbau sehr hohe Strukturkosten resultieren und bei einer Vollkostenrechnung Verluste. Der Landwirt würde auf der Schadensfläche fast doppelt so viel verdienen, als wenn er keinen Erosionsschaden erlitten hätte. Die Gemeinde bemängelt sodann, dass der Humusverlust viel geringer ausgefallen sei.
    Gericht: Das Gericht hat diese Rügen der Gemeinde aufgrund der vorhandenen Unterlagen, Fotografien sowie früheren Argumentationen der Gemeinde überprüft und diese allesamt als nicht stichhaltig beurteilt.

  • Die Gemeinde führte zahlreiche weitere Argumente ins Feld, weshalb die Gemeinde nicht haftbar sein solle. So machte die Gemeinde geltend, das Wasser sei vom angrenzenden Hang eingeflossen und nicht von der Strasse. Der Landwirt hätte überdies im Bankettbereich einen Walm mit Durchbrüchen erstellt und diesen auch gemäht sowie unterhalten. Hätte der Landwirt einen breiteren Grasstreifen gemäss landwirtschaftlichen Merkblättern kultiviert, so wäre es ebenfalls nicht zum Schaden gekommen. Es hätte sich sowieso um einen Starkregen im Sinne höherer Gewalt gehandelt, für welchen die Gemeinde sowieso nicht hafte.
    Gericht: Das Gericht ist auf all diese Argumente eingegangen und hat diese geprüft. Das Gericht hat unter anderem befunden, dass der Gemeinde einerseits der Beweis für ihre Behauptungen nicht gelingt, andererseits es aus allgemeiner Lebenserfahrung bekannt sei, dass sich mit der Zeit am Strassenrand Erhöhungen bilden und es für den Landwirt keinen Sinn ergibt, einzelne Durchbrüche anzulegen. Die Gemeinde sei alleine für eine funktionierende Entwässerung verantwortlich. Dementsprechend unterlag die Gemeinde vollumfänglich.

Die Gemeinde hatte am Ende wohl hohe eigene Anwaltskosten als auch die Verfahrenskosten im Umfang von 4'000 CHF selbst zu berappen.

Praxistipps:

  • In sämtlichen Fällen mit Behörden ist es grundlegend, genau zu wissen, welche Gesetzesvorschriften zur Anwendung kommen.
  • Sind die massgeblichen Gesetzesvorschriften einmal bekannt, so gilt es im Detail herauszufinden, welche Voraussetzungen erfüllt oder nicht erfüllt sein müssen, damit die Gesetzesnorm als Grundlage einer Forderung oder eines hoheitlichen Aktes zur Anwendung gelangt. Hierbei ist es weiter wichtig herauszufinden, ob andere kantonale oder eidgenössische Behörden bereits über ähnliche Streitfälle entschieden haben.
  • Ist diese Vorarbeit erledigt, so sind im Weiteren der fragliche Vorfall oder die Streitigkeiten so darzulegen, dass die geforderten gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Es bedarf in der Regel stichhaltiger Beweise in Form von Gutachten, Beweisfotos oder Aussagen und Schreiben
    sowie Feststellungen von Drittpersonen.
  • In Prozessen mit den Behörden ist es von allem Anfang an wichtig, den Prozess in seiner Relevanz umfassend zu erkennen und zu beurteilen. Gemäss dieser Einschätzung ist alsdann vorzugehen.
  • Nach Möglichkeit sind (andere) Sichtweisen von Dritten und deren Argumente miteinzubeziehen und zu berücksichtigen.
  • In allen Fällen ist der Sicht- und Argumentationsweise der Behörde genügend Rechnung zu tragen und, soweit es nur möglich ist, Gegenargumente und Gegenbeweise zu organisieren und zu erstellen.
  • Wird einem Fall eine gewisse Relevanz zugeordnet, so rechtfertigt sich der Beizug von Expertise, um die Chancen und Risiken möglichst gut abzuschätzen. Wichtig dabei ist, den Fokus auf die massgebenden Punkte zu legen. Hierbei ist regelmässig wichtig zu wissen, wer für was welchen Beweis zu liefern hat.
  • Der Beweis ist im Straf- und Verwaltungsverfahren wie vorliegend vollkommen unterschiedlich. Im vorliegenden Verfahren hatte Landwirt A. einen namhaften Schaden sowie die Verursachung durch eine öffentliche Strasse nachzuweisen. Der Gemeinde oblag der Gegenbeweis inklusive Selbstverschulden et cetera.
  • Eigentlich eine einfache Aufgabe. Wenn man sich allerdings das 35-seitige Urteil des Verwaltungsgerichts zu Gemüte führt, so ist das eine höchst anspruchsvolle Aufgabe.
  • Wichtig ist gleich zu Beginn, eine überzeugende, nachvollziehbare und plausible Sichtweise der Geschehnisse darzulegen und diese auch mit den notwendigen, objek­tiven Detailbeweisen zu belegen. Fotoaufnahmen erweisen sich in aller Regel als sehr gute und zuverlässige Quellen, um eigene Behauptungen und Sichtweisen nachzuweisen. Ebenso hilfreich sind zeitnahe Beurteilungen durch neutrale Fachexperten des entsprechenden Fachgebiets, wie vorliegend durch die Inforama.
  • Als wenig erfolgsversprechend erweist es sich in der Regel, nach eigenem Gutdünken irgendein Schreiben oder eine Stellungnahme zu verfassen und die Reaktion der Behörde darauf abzuwarten.
  • Schlussendlich: Am Ende eines Prozesses ist man immer schlauer und kann zuverlässiger beurteilen, was man
    allenfalls noch besser oder anders hätte anstellen können. Allerdings hängt der Prozessverlauf sehr von beteiligten Amtspersonen ab und davon, ob man für die Streitigkeit ein gewisses Verständnis aufbringen kann.

Ein erfolgreicher Prozess bedarf immer einer guten Zusammenarbeit, sodass ein Rechtsvertreter versteht, wie es der Betroffene sieht. Handkehrum muss sich der Betroffene mit den obigen Grundzügen der Verwaltung auseinandersetzen und dem Rechtsvertreter die notwendigen Unterlagen und Argumente liefern.

Hier finden Sie einen Fragebogen, der Ihnen bei einer ersten provisorischen Einschätzung hilft:

Selbsttest herunterladen >

Zur Person

Stephan Stulz ist Rechtsanwalt mit eigener Kanzlei. Nach einer Lehre als Landmaschinenmechaniker absolvierte er ein Maschinen­ingenieurstudium, später studierte er an der HSG St. Gallen (lic. iur.) und ist heute spezialisiert auf sämtliche Verwaltungs-und Strafverfahren, insbesondere mit technischem Hintergrund (vgl. www.stulz-recht.ch).

Das Wichtigste in Kürze

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erfahren Sie das Wichtigste in Kürze per E-Mail.

Kontakt

Verband Lohnunternehmer Schweiz
Rütti 15
CH-3052 Zollikofen BE

+41 56 450 99 90
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

Wichtige Links

Verband Lohnunternehmer Schweiz © 2023